Person, Recht und Natur

Zum Lebensschutz als staatlicher Aufgabe vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie

Autor:innen

  • Christian Hofmann Hagen / Tutzing

Schlagworte:

Menschenwürde, Person, Lebensschutz, Verhältnismäßigkeit, Grundrechte

Key words:

Human dignity, person, protection of life, proportionality, fundamental rights

Abstract

Zusammenfassung: Bis zu welchem Grad ist eine mit dem Lebens- und Gesundheitsschutz begründete Einschränkung von Grundrechten und des gesellschaftlichen Lebens, wie bei der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie, aus ethischer und rechtsphilosophischer Sicht legitim? Ethik und Recht und nicht die Medizin sind es, die in diesen Fragen letztlich den normativen Orientierungsrahmen geben müssen – was nicht ausschließt, dass auch medizinische Argumente bei der Deliberation eine wichtige Rolle spielen. Es stellen sich deshalb Fragen nach diesem normativen Orientierungsrahmen und danach, wie die Berufung auf das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und eine davon abgeleitete staatliche Aufgabe des Lebensschutzes gegenüber diesem einzuordnen sind. Hierfür ist zunächst auf die Begriffe der „Person“ und der „Menschenwürde“ einzugehen, wobei ich mich insbesondere an Kant orientiere (1). Es stellen sich hierbei Fragen sowohl nach dem Recht als auch nach dem Verhältnis der menschlichen Person zur Natur bzw. zum Leben. Hier ist dann über Kants Dualismus hinaus zu einer in zweifacher Hinsicht stärker „integrativen“ Perspektive überzugehen, die den Menschen als personal-leibliche Einheit bzw. als personales Naturwesen begreift und auch methodisch eine Vielfalt relevanter Perspektiven einbezieht (2) und von der her sich auch Konsequenzen für das Verhältnis zu Viren und für den Begriff der Gesundheit ergeben (3). Die hiermit angesprochenen naturphilosophischen und anthropologischen Aspekte sind dennoch zugleich vor dem Hintergrund Kants normativ einzubinden. Als absoluter Selbstzweck können dabei nicht das Leben und die Gesundheit gelten, sondern nur die menschliche Würde. Vor diesem Hintergrund betrachte ich einige zentrale Argumente der gesellschaftlichen und juristischen Debatten, die im Zuge des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 geführt wurden, speziell zum Verhältnis von Würde und Leben und zur Verhältnismäßigkeitsprüfung in Bezug auf die Einschränkung von Grundrechten (4). Dass es hierbei eines differen-zierten Umgangs mit verschiedenen Gruppen von Betroffenen bedarf, zeige ich an den Beispielen von Senior:innen in Pflegeheimen sowie Kindern und Jugendlichen (5). Als Ergebnis halte ich fest: Der Schutz des Lebens ist der Würde des Einzelnen im Zweifel unterzuordnen; es bedarf einer integrativen Perspektive und eines differenzierten Vorgehens, das verschiedene Personengruppen auch hinsichtlich ihrer jeweiligen besonderen Situation entsprechend berücksichtigt (6)

English version

Abstract:To what extent can the protection of life and health justify a restriction of fundamental rights and social life, as in the current Covid-19 pandemic, regarded from an ethical and jurisprudential perspective? Only ethics and law, and not medicine, can give the ultimate orientation framework here. This does not preclude that medical arguments, too, can play an important role in the process of deliberation. Hence, questions arise concerning this normative orientation framework and concerning the status of the appeal to “the right to life and physical integrity” (Basic Law for the Federal Republic of Germany, article 2, paragraph 2, sentence 1) in relation to this framework. In how far is the protection of life a governmental task? First, I focus on the concepts of ‘person’ and ‘human dignity’ from the perspective of Kant’s philosophy (1). Questions arise concerning right as well as the relation of the person to nature and life. Here I go beyond Kant’s dualism towards a more ‘integrative’ perspective: on the one hand the human being must be regarded as a psychosomatic unity, on the other hand a plurality of relevant perspectives must be included (2). This has consequences for the relation of the human being towards the virus and for the concept of health (3). However, these aspects must be incorporated within the normative background of Kant’s practical philosophy. Not life or health, but only dignity can be an absolute end in itself. Against this background, I consider some central arguments of the public and legal debates which arose in the course of the first lockdown in spring 2020, especially concerning the relationship of dignity and life and the proportionality of the restriction of fundamental rights (4). As I demonstrate by reference to the examples of elderly people in nursing homes as well as children and young people, we must take into account the specific conditions and necessities of different social groups as well (5). I conclude that the protection of life is subordinated to the principle of dignity in the case of doubt; an integrative and differentiated view is needed which takes into account the specific situations of different social groups (6).

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Zitationsvorschlag

Hofmann, C. (2022). Person, Recht und Natur: Zum Lebensschutz als staatlicher Aufgabe vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 8(1), 121–148. https://doi.org/10.22613/zfpp/8.1.6 (Original work published 1. Juli 2021)

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt: Die Corona-Pandemie - Praktische Philosophie in Ausnahmesituationen II